Polynomvernichtenden Funktionen und Folgen

In diesem Blogeintrag wollte ich einfach ein Ergebnis von der Realanalyse mitteilen, die ich für sehr unintuitiv halte. Es lautet, dass es Funktionen $f:\mathbb R^+\to\mathbb R$ gibt, die alle Polynomfunktionen vernichten, also orthogonal zu jeder Polynomfunktion sind, bezüglich des $L^2$-Skalarprodukt. Das heißt, es gibt Funktionen $f:\mathbb R^+\to\mathbb R$, für die gilt für jedes Polynom $P$. Anders gesagt gilt folgendes für alle $k\in\mathbb N$: Überraschenderweise ist es ziemlich einfach, die Formel einer bestimmten Elementarfunktion vorzulegen, die diese seltsame Eigenschaft erfüllen. Die folgende Integralformel gilt für alle $\alpha\in\mathbb C$ bei denen $\text{Re}(\alpha) > 0$: Wenn man $\alpha$ die Werte von komplexen Einheitswurzeln annehmen lässt, dabei stellt sich heraus, dass besondere Linearkombinationen von verschiedenen Werten von $f_n(\alpha)$ den Wert Null annehmen für alle $n$ die einer bestimmten Teilfolge von $\mathbb N$ gehören. Zum Beispiel, jede vierte Wert von $\zeta_8^n + \zeta_8^{-n}$ ist Null, weil $\zeta_8^{8n+2}=+i$ und $\zeta_8^{-(8n+2)}= -i$. Deshalb gilt Nach einem zusätzlichen Ersatz in diesem Integral, ergibt sich, dass Die gleiche Methode bringt noch weitere Beispielfunktionen hervor:

Natürlich erfüllen auch lineare Kombinationen von diesen Funktionen die gleiche seltsame Eigenschaft; das heißt, die Menge von allen integrierbaren Funktionen $f:\mathbb R^+\to\mathbb R$, die orthogonal zu jedem Polynom sind, ist ein Vektorraum. Es ist nämlich der Nullraum des Operators Die Existenz solcher Beispielfunktionen ist sogar überraschender, in Anbetracht der Tatsache, dass es keine derartige Funktionen im Vektorraum von integrierbaren Funktionen auf dem Interval $[0,1]$ anstatt $[0,\infty)$, dessen Nichtexistenz eine Konzequenz des Satzes von Stone-Weierstrass ist. Wenn eine Funktion $f:[0,1]\to\mathbb R$ orthogonal zu jedem Polynom auf dem Interval $[0,1]$ wäre, dann wäre auch $\langle f, P\rangle =0$ für jedes Polynom $P$, weshalb es im Widerspruch zum Satz von Stone-Weierstrass unmöglich wäre, $f$ durch Polynomfunktionen zu approximieren.


Diesem Resultat entspricht auch ein diskretes Gegenstück. Es existieren auch unendlichen Folgen $(a_n)$ von Realzahlen, die ally Polynomfolgen $(n^k)$ vernichten bezüglich des $\ell^2$-Skalarproduktes, damit folgendes gilt für jede $k\in\mathbb N$:

Diese Folgen bilden auch einen Vektorraum, der der Kernraum von einer unendlichen Vandermonde-Matrix sind, was sogar erstaunlicher ist, weil alle endliche Vandermonde-Teilmatrizen von dieser Matrix voller Rang sind, also einen nulldimensionale Kernraum besitzen:

Es ist schwerer, die Existenz solcher Folgen zu beweisen, doch man kann sich die früher erwähnte polynomvernichtende Funktionen $f:\mathbb R^+\to\mathbb R$ zunutze machen, um Beispielfolgen zu produzieren. Sei $f$ eine bestimmte polynomvernichtende Funktion $f:\mathbb R^+\to\mathbb R$ und sei bestimmt eine komplexe Funktion $\phi_f$ durch die folgende Formel, wo $z\in \mathbb C$ die Ungleichung $\text{Re}(z) < 1$ erfüllt:

Diese Formel definiert eine analytische Funktion $\phi_f$ in der ganzen Kreisscheibe $|z| < 1$, weshalb folgt es, dass $\phi_f$ eine konvergente Potenzreihe innerhalb dieser Kreisscheibe besitzt:

Durch die Formel, damit $\phi_f$ definiert wurde, kann man beweisen, dass sich sowohl $\phi_f$ als auch alle ihrer Ableitungen $\phi_f^{(k)}$ dem Nullwert annähern als $z\to 1$:

Das ist selbst zwar ein ziemlich ungewöhnliches Grenzverhalten von einer analytischen Funktion, doch darüber hinaus kann man daraus folgern, dass die Koeffizientenfolge $a_n = \phi_f^{(n)}(0)/n!$ zu jedem Polynom orthogonal ist, denn

und jene Familie von Polynomen $n(n-1)\cdots (n-k+1)$ spannt den ganzen Vektorraum von Polynomfunktionen auf. Deshalb ergibt sich die folgende Formel für eine Beispielsfolge $(a_n)$ mit der Eigenart, für die wir uns interessieren:

Soweit ich weiß gibt es keine schöne analytisch geschlossene Formel für eine zu jedem Polynom orthogonale Folge $(a_n)$. Die Thue-Morse Folge bekommt doch eine "ehrenvolle Erwähnung": obwohl die unendliche Summe von $\sigma(n)\cdot n^k$ gar nicht konvergent ist, trifft ihre Folgen von Partialsummen den Nullwert unendlich oft. Insbesondere gilt für jede $m,k\in\mathbb N$, der an und für sich auch eine sehr sonderbare eigenschaft ist!


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