Achtung: dieser Blogeintrag enthält Spoilers der Fernsehserie True Detective: Night Country. Wenn du dich ihr noch nicht angeschaut hast und anschauen möchtest, pass auf! (Du sollst es überhaupt schauen, es ist wirklich toll.)
Dieses Semester belege ich bei der UNM einen Deutschkurs, in dem wir deutsche Literatur ab der Frühaufklärung studieren. Eine der ausgewählten Lektüren, die mich sehr viel interessiert hat, heißt Von Tragödien, oder Trauerspiele und ist von J. C. Gottsched geschrieben geworden. In dieser Schrift beschreibt er die Ziele der Trauerspiele und die Merkmale der Stücke, die diese Ziele am erfolgreichsten erreichen. Er meint, daß eine Tragödie danach strebt, "Traurigkeit, Schrecken, Mitleiden und Bewunderung" zu evozieren.
Inwieviel seine Theorien original sind, habe ich gar keine Ahnung. Davon scheinen mir irgendeine Teilen ein bisschen veraltet oder aufs Theater beschränkt, zum Beispiel seine Behauptung, daß eine Tragödie Einheit der Zeit und des Orts erfüllen soll, um den Publikum nicht zu verwirren. Wohl könnte es schwer sein, ein Theaterstück zusammenhängend und verständlich vorzuführen, wenn der Handlung abwechselnd in verschiedenen Orten und Zeiträumen geschieht, aber dieser Rat gilt gar nicht für Filmen, wo es möglich ist, vielmehr detallierte Hinweisen zu bieten, den Handlungsort und die Handlungszeit betreffend.
Ein einfaches Teil von seiner Theorie, das meines Erachtens noch sehr relevant ist, lautet: ein tragischer Held soll ein Mischcharakter sein. Also, um erfolgreich die stärkste Empfindung des Mitleids in den Zuschauern zu erwecken, soll ein Held sowohl Tugenden als auch Laster besitzen. Nach ihm:
Das will eben Aristoteles haben, wenn er sagt, die Helden einer Tragödie müßten weder recht schlimm noch recht gut sein. Nicht recht schlimm, weil man sonst mit ihrem Unglücke kein Mitleiden haben, sondern sich darüber freuen würde: Aber auch nicht recht gut, weil man sonst die Vorsehung leicht einer Ungerechtigkeit beschuldigen könnte, wenn sie unschuldige Leute so hart gestrafet hätte.
Letztens habe ich mich mit meiner Freundin der neuen Staffel von True Detective angeschaut. Als wir diese kurze Serie unter uns besprach, entdeckten wir, daß dieser Serie Gottscheds (oder eher Aristoteles) Theorie über den tragischen Held sehr relevant ist.
Was uns sehr viel interessiert hat, ist die tragische Natur vom Polizist Hank Prior. Dieser ist doch gar kein Held sondern ein Gegner der Hauptheldinnen, nämlich die Chefin Danvers und die State-Trooper gewordene Expolizistin Navarro. Er erfüllt definitiv den Krimitropus vom stinkfaulen, korrupten und frauenverachtenden Polizist, der immer im Weg steht. Gewiss versucht er, die Wiedereröffnung der Untersuchung nach dem Mord von Annie Kowtok zu verschieben und zu verhindern. Er wird auf seinen Sohn, der Polizist Peter Prior, böse, nach dem er Fallakten, die Hank der Chefin zurückhält, von seinem Hause stehlt, aber kurz danach stehlt Hank selbst Dateien vom Computer seines eigenen Sohns, um die Chefin damit erpressen zu laßen. Am Ende der Serie erfahren wir, daß er auch bestochen wird und an der eigentlichen Vertuschung von Annies Mord teilnahm.
Deshalb ist er eine der verachtenswertesten Charaktere der Serie, mindestens theoretisch - aber wir fanden, daß er auch eine der Charactere, die das stärkste Mitleid erweckt, ist. Mir ist es auch klar geworden, daß er dafür beabsichtigt geschrieben ist, um ein bisschen Nuance auf seinen Charakter zu werfen.
Sein Mißgeschick mit dem Catfishing ist der Haupthandlung der Serie umsonst, aber es verstärkt unsere Mitleid, weil es ihn als ahnungslos und einsam darstellt. Obwohl man dächte, daß es eher ekel als mitleid erwecken würde, daß er bestochen von der Minengesellschaft wird, um zum Polizeichef befördert zu werden, kommt es uns doch sehr kläglich vor: er opfert seine Unversehrtheit, seine Beziehung mit seinem Sohn und endlich auch sein Leben auf, um einen so kleinen Preis zu gewinnen, den Chef einer kleinen und dunklen Stadt von Alaska benannt zu werden. Vergebens beruft er sich auf die Familienbände, um zu vermeiden, daß die Chefin Danvers die Treue seines Sohns von ihm wegreißt. Doch endlich bekommt er von dem gleichen Sohn, deren Treue und Achtung er gewinnen wollte, stattdessen einen kurzerhanden Kopfschuss. Dasselbe Kind, den der als Knabe vom Eis rettete, schiebt seinen lebenlosen Körper in ein Eisloch hinein, wo er zu einem unauffindbaren frostigen Grab verurteilt wird.
Man könnte fragen: wenn Hank so viele Laster hat, was hat er für Tugenden? Wenn ich behaupten möchte, daß er als Beweis von Gottscheds Theorie der Tragödie dient, dann soll er nicht nur fehlerhaft sein sondern auch tugendhaft. Dazu würde ich erwidern, daß seine Liebe zu seinem Sohn diese Rolle spielt. Ob die Vaterliebe wirklich eine Tugend oder eine bloße Emotion ist, könnte gern bestritten werden, doch es ist egal. Als Zuschauer empfinden wir für ihn Mitleid, weil uns ist die Vaterliebe (auf der emotionalen Schiene, wenn nicht der Philosophischen) lobenswert und nachempfindbar.
In dieser Serie gibt es doch viele bemitleidenswerte Charaktere, also wie kann es sein, daß der Feind uns am tragischsten vorkommt? Überleg mal die Chefin Danvers, die offensichtlich sowohl Tugenden als auch Laster besitzt und die ihre Familie in einem Autounfall verloren hat. Oder Julia Navarro, die Schwester der Protagonistin Evangeline Navarro und die ihre schlimmste Befürchtung erlebt, nämlich der Geisteskrankheit ihrer Mutter, von der sie als Kind traumatisiert wurde, selbst erliegt. Verdienen diese Charaktere nicht mehr Mitleid als Hank Prior? Warum denn evoziert Hank Prior mehr Trauer?
Ich bringe nur ein paar Vermutungen vor. Wegen der Chefin Danvers, obwohl ihre Geschichte traurig ist, weist sie zu viel Kraft innerhalb der Serie auf, um als eine tragische Charakter empfunden zu werden. Sie is bockig und scharf und endlich kriegt sie durch Ausdauer, was sie kriegen wollte, nämlich die Wahrheit. Im Vergleich zu ihr ist Hank Prior ein Verlierer. Im Fall von Julia Navarro würde ich vermuten, daß die Hoffnungslosigkeit ihrer Notlage vermeidet, daß wir sie als tragische Charakter wahrnehmen. Von Anfang der Serie an bekommen wir Hinweisen von ihrem Shicksal und man hat das Gefühl, daß Evangeline sich selbst betrügt, als sie ihrer Schwester verspricht, daß alles schon passen wird. Auch ist Julia keinen Mischcharakter: ihre Geisteskrankheit ist kein Charakterfehler und sie kommt als eine unschuldige Opfer vor. Im Gegensatz ist Hank selbst seines Geschicks schuldig und wir werden von seiner Fehlentscheidungen und sie erwecken in uns nicht nur Mitleid sondern auch Enttäuschung.
Es bleibt noch die Frage, warum die Schreiber Hank als tragischen Charakter darstellen wollten. Es ist mir eingefallen, daß Hank Prior allegorisch eine Idee oder eine Personengruppe unser Zeit räpresentiert - zum Beispiel die Familienbände selbst. Dazu würde seinen Konflikt mit der Chefin, die als Witwe und Serienehebrecher im Gegensatz zu dieser Werthaltung steht, zupassen. Es wäre auch zupassend, wenn sein Mord den Zwang seines Sohns, seinen Pflichten gegenüber seiner Familie eine höhere Priorität zuzuteilen, den wir auch in Peters Ehe wiedergespiegelt sehen, verkörpert. So gesehen, ist es sehr angemessen, daß er eindeutig aber mit große Empfindung verabschiedet wird.
Ich glaube doch, daß es noch etwas dieser Analyse fehlt. Das werde ich noch überlegen müssen.